Projekt unterstützt Kinder psychisch erkrankter Eltern – Nach Auslauf der Projektphase setzen sich die Träger für eine Regelfinanzierung ein
„Wir haben in den drei Jahren vieles auf den Weg gebracht“, sagte Kirsten Wolf, die als eva-Mitarbeiterin das Projekt koordiniert. Das Besondere an Aufwind sind die unterschiedlichen Ebenen der Angebote: Ein Baustein ist die Einzelfall-Arbeit mit betroffenen Kindern und ihren Eltern. Fachleute aus der Sozialpsychiatrie und der Jugendhilfe begleiten und beraten diese Familien gemeinsam. Durch den engen fachlichen Austausch können sie die Hilfen für das erkrankte Elternteil und das Kind optimal aufeinander abstimmen. Unterstützt werden die Kinder auch von ehrenamtlichen Paten, die ihnen zur Seite stehen und besonders in Krisenzeiten wichtige Ansprechpartner sind. Daneben hat Aufwind Gruppenangebote für Kinder initiiert und Elternsprechstunden in Kliniken angestoßen. Wichtige Bausteine sind außerdem die Netzwerkarbeit im Stadtteil sowie Info-Veranstaltungen für Multiplikatoren wie Lehrer, Erzieher, Ärzte etc., um sie für das Thema zu sensibilisieren. „Die Not der Kinder wird oft nicht erkannt“, so Wolf. „Sie haben meist niemanden, der ihnen erklärt, was mit der Mutter oder dem Vater los ist. Aber diese Kinder brauchen Antworten.“Kinder psychisch erkrankter Eltern wachsen in einer schwierigen Situation auf. Sie leiden oft stumm, ihre Not wird häufig übersehen.
Das Projekt Aufwind, das die Evangelische Gesellschaft (eva) 2012 in Kooperation mit dem Caritasverband für Stuttgart und der Stiftung Jugendhilfe aktiv ins Leben gerufen hat, hat genau diese Lücke im Hilfesystem gefüllt. Die dreijährige Projektphase, die durch Aktion Mensch und eva’s Stiftung gefördert wurde, ist im März 2015 ausgelaufen. Seither übernehmen die Träger die Zwischenfinanzierung, bis eine Regelfinanzierung gefunden ist. „Wir sind darauf angewiesen, dass der Gemeinderat das Projekt im Doppelhaushalt 2016/17 berücksichtigt“, betonte Heinz Gerstlauer, Vorstandvorsitzender der eva, beim Pressegespräch am 1. Oktober. „Von der Sinnhaftigkeit des Projekts sind alle überzeugt.“
Diagnose: bipolare Störung und Schizophrenie
Antworten hätten sich auch Helen (23) und Matthis (19) gewünscht. Die Geschwister wuchsen mit zwei weiteren Brüdern bei ihrer psychisch erkrankten Mutter und dem Vater auf. Vor zwölf Jahren kam die Mutter zum ersten Mal in die Klinik. Die Diagnose damals: bipolare Störung. Erst seit einem Jahr wissen die beiden, dass ihre Mutter auch an Schizophrenie leidet.
Der Vater lebte bis zur Trennung vor fünf Jahren zwar bei der Familie. Aber er war oft nicht da, arbeitete viel. „Er schrieb uns Listen, die wir abzuarbeiten hatten“, erzählt Helen. Da ging es um Erledigungen im Haushalt: einkaufen, Wäsche waschen, putzen. Dem Vater war es wichtig, dass zu Hause „alles läuft“. Über die Erkrankung der Mutter sprach er mit seinen Kindern nie. Auch unter den Geschwistern war die psychische Erkrankung ein unangetastetes Tabu.
Immer wieder kam die Mutter über Monate in die Klinik – insgesamt war sie fast 1,5 Jahre in stationärer Behandlung. „Wir haben unseren Freunden und in der Schule dann immer irgendwelche Lügengeschichten erzählt“, sagt Matthis. Wenn die Mutter wieder nach Hause entlassen wurde, ging es den Kindern aber auch schlecht. „Sie war dann zwar anwesend, aber sie nahm so viele Medikamente, dass sie kaum ansprechbar war“, erzählt Helen. „Ihr fehlte die Seele.“ Freunde luden die beiden nie nach Hause ein, zu groß war die Scham. Als einzige Tochter übernahm Helen früh viel Verantwortung und irgendwann auch die Mutterrolle für ihre Brüder. Sie trug schwer daran, viel zu schwer. Als Jugendliche betäubte sie sich regelmäßig mit Alkohol, als junge Erwachsene erkrankte sie selbst an einer Depression. Erst in der Therapie hat sie gelernt, Grenzen zu ziehen und sich selbst zu schützen.
„Hilfe darf nicht erst dann kommen, wenn es zu spät ist“
Das Projekt Aufwind gab es noch nicht, als Helen und Matthis als Kinder und Teenager Hilfe gebraucht hätten. Heute berichten die beiden auch öffentlich von ihren Erfahrungen, um die Situation für andere Kinder psychisch erkrankter Eltern zu verbessern. Beide sind sich einig: „Hilfe darf nicht erst dann angeboten werden, wenn es zu spät ist.“ All die Jahre haben sie sich völlig allein gelassen gefühlt – niemand hat mit ihnen über die Erkrankung gesprochen, gefragt, wie es ihnen geht oder ob sie Hilfe brauchen – nicht die Klinikärzte der Mutter, nicht die Lehrer oder andere Bezugspersonen.
Die Geschichte von Helen und Matthis ist keine Ausnahme, sondern die Regel. „Viele Kinder sind in dieser Situation völlig alleingelassen“, weiß Kirsten Wolf. Daher sei das Projekt Aufwind so wichtig, weil es ganz niederschwellige und vielschichtige Hilfen anbietet. „Aufwind hat einen Sensibilisierungs-Prozess angestoßen, der unbedingt fortgesetzt werden muss, um die betroffenen Kinder frühzeitig zu unterstützen“, betonte Wolf. Die Haltung, „in Familien zu denken“, müsse nun strukturell verankert und ausgebaut werden. „Aber das geht nur mit einer Regelfinanzierung.“