Fachleute diskutierten am 29. Oktober über Hilfen für Kinder psychisch erkrankter Eltern und Fragen des Kinderschutzes
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraph 1631, Absatz 2. Entsprechend ist im Sozialgesetzbuch VIII der Schutzauftrag der Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung formuliert. Was als Gesetzestext scheinbar klar daherkommt, stellt die Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Praxis jedoch vor Schwierigkeiten. Wann genau ist das Kindeswohl gefährdet? Diese Frage ist besonders bei Kindern, die mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen, oft nur schwer zu beantworten. Das wurde beim Treff Sozialarbeit der eva zum Thema „Kindeswohl im Blick?!“ am 29. Oktober deutlich. Anders als ein gebrochener Arm oder blaue Flecken sind seelische Belastungen von Kindern viel schwerer greifbar. Meist beginnt es mit einem „unguten Bauchgefühl“, das Erzieherinnen und Sozialpädagogen ernst nehmen sollten.
„Was eine Kindeswohlgefährdung ist, dazu findet man im Gesetz keine offizielle Definition“, sagte Psychologin Heike Kröger vom Kinderschutz-Zentrum Stuttgart. Ganz allgemein sei damit das Verhalten von Eltern oder anderen Personen gemeint, das Kinder körperlich oder seelisch nachhaltig verletzt oder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. „Kinder von psychisch erkrankten Eltern leiden aber oft stumm“, so Kröger. „Ihnen sieht man ihre Not zunächst nicht an.“
Recht, das ungute Bauchgefühl ernst zu nehmen
In solchen Fällen sind es dann Verdachtsmomente, die sich häufen und ein „ungutes Bauchgefühl“ hervorrufen: Die Mutter, die ihr Kind in die Kita bringt, lässt sich äußerlich gehen, wirkt immer wieder verwirrt und abwesend. Ihr Kind zieht sich mehr und mehr zurück und sucht keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. „Das Gesetz gibt uns das Recht, dieses Bauchgefühl ernst zu nehmen“, betonte Kröger. Eine besorgte Erzieherin zum Beispiel könne sich zunächst mit ihren Kollegen über den Fall austauschen und bei Bedarf eine so genannte „insoweit erfahrene Fachkraft“ (IeF) zu Rate ziehen. Dabei handelt es sich um Kinderschutzfachkräfte, die über eine spezielle Zusatzausbildung verfügen und als neutrale Instanz beratend zur Seite steht. „Um das Risiko besser greifen zu können, hilft es oft, die Sorge auf mehreren Schultern zu verteilen.“ Gemeinsam entscheide man, was zu tun ist: Es kann sinnvoll sein, die Eltern mit ins Boot zu holen und gemeinsam mit ihnen weitere Hilfen zum Wohle des Kindes auf den Weg zu bringen. Bei akuter Gefährdung hingegen müsse das Jugendamt informiert werden, welches das Kind – in letzter Konsequenz – in Obhut nehmen kann.
Eine vorgefertigte Anleitung gibt es nicht
„Viele Fachkräfte wollen von mir eine Anleitung haben, was bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zu tun ist“, sagte Kröger. „Aber die gibt es nicht, weil jeder Fall anders ist.“ Die beste Voraussetzung, um ein Risiko möglichst früh zu erkennen, sei ein umfassendes Wissen über die „gesunde“ kindliche Entwicklung.
Denn die ist massiv gefährdet, wenn Kinder bei einem psychisch erkrankten Elternteil aufwachsen: Laut Statistik haben diese Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Um dem etwas entgegenzusetzen, versucht Sabine Ramsayer die „Mut-Mach-Gefühle“ der betroffenen Mädchen und Jungen zu stärken. Die Kinder-Psychotherapeutin, die unter anderem am Klinikum Esslingen tätig ist, weiß: „Diese Kinder haben einen permanent hohen Stresslevel. Sie fühlen Scham, Schuld, Hilflosigkeit, Wut.“ In dem Umfeld der Kinder gibt es meist niemanden, der ihnen erklärt, was mit Vater oder Mutter überhaupt los ist. Und niemanden, der ihnen vorlebt, wie man mit negativen Gefühlen konstruktiv umgeht. Daher sei es wichtig, in der therapeutischen Arbeit Gefühle zum Thema zu machen. „Hilfreich ist es auch, gemeinsam mit dem Kind einen Notfallkoffer zu packen“, so Ramsayer. Gerät Vater oder Mutter wieder in eine Krise, ist das Kind vorbereitet und findet im Notfallkoffer zum Beispiel die Telefonnummer von einer wichtigen Bezugsperson, ein Kuscheltier oder ein Bilderbuch, das Mut macht.
Einen Notfallplan hat auch Angela Müller. Die Mutter einer 18-monatigen Tochter leidet selbst an einer Borderline-Störung und berichtete beim Treff Sozialarbeit von ihren Erfahrungen. „Wenn es mir schlecht geht, rufe ich meine Mutter an“, erzählte sie. Immer griffbereit hat sie außerdem die Telefonnummer des Gemeindepsychiatrischen Zentrums und von Kirsten Wolf, die das Projekt Aufwind bei der eva koordiniert.
Angebote, die den Weg ins Hilfesystem ebnen
Aufwind unterstützt Kinder psychisch erkrankter Eltern präventiv. Das Besondere sind die unterschiedlichen Ebenen der Angebote, wie Kristen Wolf deutlich machte: Ein Baustein ist die Einzelfall-Arbeit mit betroffenen Kindern und ihren Eltern. Fachleute aus der Sozialpsychiatrie und der Jugendhilfe begleiten und beraten diese Familien gemeinsam. Durch den engen fachlichen Austausch können sie die Hilfen für das erkrankte Elternteil und das Kind optimal aufeinander abstimmen. Unterstützt werden die Kinder auch von ehrenamtlichen Paten, die ihnen zur Seite stehen und besonders in Krisenzeiten wichtige Ansprechpartner sind. Daneben hat Aufwind Gruppenangebote für Kinder initiiert und Elternsprechstunden in Kliniken angestoßen. Wichtige Bausteine sind außerdem die Netzwerkarbeit im Stadtteil sowie Info-Veranstaltungen für Multiplikatoren wie Lehrer, Erzieher, Ärzte etc., um sie für das Thema zu sensibilisieren.
Die dreijährige Projektphase von Aufwind, die durch Aktion Mensch und eva’s Stiftung gefördert wurde, ist im März 2015 ausgelaufen. Seither übernehmen die Träger – neben der eva sind das der Caritasverband für Stuttgart und die Stiftung Jugendhilfe aktiv – die Zwischenfinanzierung. Kirsten Wolf setzt sich nun dafür ein, dass der Stuttgarter Gemeinderat das Projekt im Doppelhaushalt 2016/17 berücksichtigt. „Die betroffenen Familien sind nicht homogen“, so Wolf. „Deshalb braucht so ganz unterschiedliche Angebote wie bei Aufwind, um Familien den Weg ins Hilfesystem zu ebnen.“