Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe waren das Thema beim Treff Sozialarbeit der eva am 16. Juni
Geschlossene Unterbringung, Zwangskontext, freiheitsentziehende Maßnahmen – klingt beängstigend. Was steckt konkret dahinter? Sind es nur andere Bezeichnungen fürs Gefängnis? Fürs Wegsperren? Nein, das machten die Kinder- und Jugendhilfe-Experten beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 16. Juni deutlich. Aber auch: Freiheitsentzug ist immer ein Balanceakt.
„Freiheitsentzug muss die Ausnahme sein“, betonte Donald Bieß, Sozialarbeiter beim Jugendamt der Stadt Stuttgart. Manchmal aber sei er nicht zu vermeiden. Ob und wann das der Fall ist, Alternativen abzuwägen, das ist die schwierige Aufgabe der Jugendhilfe.
Wie schwierig, zeigt das Beispiel von Thomas Heinrich (Name geändert). Im Alter von 13 Jahren wurde bei ihm eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert. Er machte eine Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seine Ärztin wandte sich ans Jugendamt, weil der Junge Probleme in der Schule und zu Hause hatte. Bei einem Gespräch in der Klinik mit allen Beteiligten wurde vereinbart: Thomas Heinrich wird aus der Klinik entlassen, die Familie durch Hilfen zur Erziehung unterstützt. Ein Schulwechsel sollte dabei helfen, einen schulischen Neustart hinzubekommen. Zu Beginn sah es gut aus. Der Schulneustart gelang. Doch der Junge lehnte zunehmend die Erziehungshelferin ab. Seine Mutter versuchte, sich das Leben zu nehmen. Thomas Heinrich demolierte die Wohnung. Die Hilfen zur Erziehung wurden schließlich abgebrochen. Thomas Heinrich kam ins Jugendschutzheim, anschließend zu seiner Tante, denn nach Hause konnte er nicht. Er wurde 14 Jahre alt und damit strafmündig. Es gab verschiedene Strafverfahren gegen ihn, wegen Erpressung, Diebstahl, Betrug. Er erhielt mehrere Schulverweise. Auf Grundlage eines Gutachtens suchte das Jugendamt nach einer geeigneten Einrichtung für den Teenager. Die Zusage kam – Thomas Heinrich nicht. Er wurde hingebracht – und lief weg. Die Polizei brachte ihn zurück – er flüchtete wieder. Und wieder. Das Jugendamt musste seine Hilfe einstellen. Keine Chance. Über zwei Jahre hinweg währte der vergebliche Versuch, zu helfen. Und nun? Heinrich wird wegen vieler Straftaten im Intensivtäterprogramm der Landeshauptstadt geführt. Er wurde verurteilt und steht unter Bewährung. Würde er die Auflagen brechen, käme er in Haft. Thomas Heinrich geht zur Schule, nimmt am Förderprogramm 400+Zukunft teil und sagt, zu Hause liefe es gut. „Wie es zu dieser Veränderung kam? Ich weiß es nicht“, sagte Bieß. „Ich denke, Strafmündigkeit und gerichtliche Ansagen haben reingespielt.“ Man könne es nur vermuten, was den Ausschlag zur Veränderung gegeben hat.
„Prinzip des Durchreichens“
Was der Fall Thomas Heinrich beispielhaft für viele andere zeigt: Ohne Willen zur Veränderung wird keine stattfinden. Ohne Einbeziehung der Familie in die wie auch immer geartete Hilfe (in der Regel) auch nicht. Und: Bevor diese Jugendlichen in einer stationären Einrichtung landen, ist immer viel passiert.
Viele von ihnen durchlaufen eine „Hilfsmaßnahmen-Karriere“: Einrichtung folgt Einrichtung, einer Maßnahme folgt eine intensivere Maßnahme, auch im Strafvollzug oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie, zwischendurch wird der Jugendliche auf die Straße oder nach Hause entlassen – und alles geht wieder von vorne los. Oft laufen einige Hilfsmaßnahmen parallel, mitunter gegeneinander, ohne dass Helfer A von Helfer B weiß. Dieses „Prinzip des Durchreichens“ beobachtet Martin Eipper, Bereichsleiter von Scout, einer stationären intensivpädagogischen Einrichtung der Evangelischen Gesellschaft (eva), immer wieder. Die Jugendlichen, die zu Scout kommen, „wurden aus anderen Maßnahmen weggeschickt, waren nicht mehr (aus)haltbar in anderen Einrichtungen“.
Etwa 100 Anfragen hat die Einrichtung pro Jahr, circa zehn Jugendliche werden jährlich aufgenommen, bei insgesamt 12 Plätzen in zwei Wohngruppen. Zehn bis 15 Monate lang leben die 12- bis 17-Jährigen aus ganz Baden-Württemberg dort. Bei der Aufnahme gilt es, darauf zu achten, dass der Jugendliche zu den anderen in der Gruppe passt. Also fahren die Scout-Mitarbeitenden zum Zuhause des potenziellen Neulings, lernen ihn und seine Familie kennen – in einem vertrauten Rahmen, der sich möglichst wenig nach „Oh, jetzt mischt sich der Staat in unsere Familie ein“ anfühlt. Die Kommunikation mit der Familie ist aber auch darüber hinaus ausgesprochen wichtig. Denn die Jugendlichen sind „Symptomträger“. Die Ursachen für ihr Verhalten liegen oftmals in der Familie begründet. Nur mit begleitender Familienarbeit „gelingt eine Musterunterbrechung“, so Eipper. „Es soll sich ja nicht wiederholen, was vorher passiert ist.“
Klar strukturierter Rahmen
Da Scout nun kein Ferienlager ist, braucht es für einen Aufenthalt dort eine gültige Rechtsgrundlage: einen Beschluss vom Familiengericht oder vom Jugendgericht. Bei Scout besteht die Möglichkeit der geschlossenen Unterbringung, das heißt: Die Tür kann zugeschlossen werden. Sie kann, wenn es sein muss, was aber selten vorkommt. Und wenn, müssen die Mitarbeitenden das dokumentieren.
Bei Scout gibt es einen klar strukturierten Rahmen mit Erwartungen und Konsequenzen. Maßgebliches Instrument ist ein Stufenplan: 15 verschiedene Dinge – vom Aufstehen über die Hygiene bis zu Schulbesuch und Ämtergängen – werden Tag für Tag bei den Jugendlichen beobachtet und bewertet. „Ist das Konditionieren? Ja. So What?! In ihrer Kindheit wurde das versäumt“, sagte Jochen Salvasohn, ebenfalls Scout-Bereichsleiter. Außerdem können sie sich dadurch bewähren. „Sie haben die Wahl, sie entscheiden selbst. Wer sich verweigert, wählt eben null Punkte.“ Sowohl für die Jungen, als auch für die Mitarbeitenden sorgt der Stufenplan für Orientierung, für Klarheit.
Auf der anderen Seite gehören Wertschätzung, Anerkennung und Würdigung maßgeblich zur Scout-Pädagogik. Der Grundtenor gegenüber den Jugendlichen ist: „Du bist nicht schuld. Du bist ein Opfer deiner Biografie. Wir fragen dich, was du brauchst. Und bei jedem Hilfeplan zählt dein Wort als erstes“, so Salvasohn.
Bildungs- und Freizeitangebote, Beziehung und Fürsorge, Struktur und Konsequenz, eine klare Perspektive für den Augenblick und darüber hinaus – all das gehört zum Scout-Konzept. Dort rausfliegen kann man nicht. Zu dem Schluss kommen, dass es nicht funktioniert, schon. Vielen kann Scout helfen, allen nicht.
„Reiner Zwang hat keinen Sinn“
Immer gilt es, abzuwägen. Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Der Unterbringungsbeschluss stellt zunächst die Erlaubnis dar, diesen gravierenden Schritt zu machen – aber es ist kein Zwang, ihn sofort umzusetzen“, so Henning Ide-Schwarz, Pädagoge an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Zentrums für Seelische Gesundheit. 40 stationäre Behandlungsplätze für Sechs- bis 18-Jährige gibt es in dieser Abteilung des Stuttgarter Klinikums. Im Jugendbereich lässt sich eine deutliche Zunahme freiheitsentziehender Maßnahmen verzeichnen. „Letzte Woche waren es 50 Prozent der stationären Aufnahmen.“
Beim Treff Sozialarbeit wurde deutlich: Freiheitsentzug muss gut überlegt und gut begründet sein. Dem Zwang bei pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen geht immer eine persönliche Not voraus. Es geht nicht ums Wegsperren, nicht ums Bestrafen, sondern ums Helfen. Und wenn das gelingen soll, muss dem anfänglichen Zwang, so er indiziert ist, immer die Selbstbestimmung folgen. Denn die Entscheidung zur Veränderung kann letztlich nur aus Freiheit und Freiwilligkeit entstehen, von innen. (lako)