Treff Sozialarbeit der eva: Experten aus Erfahrung begleiten Menschen in seelischen Krisen
Stuttgart. „Ich bemühe mich um professionelle Nähe. Das Fachpersonal um professionelle Distanz.“ So hat Dr. Benjamin Drechsel beim „Treff Sozialarbeit“ der Evangelischen Gesellschaft (eva) seine Rolle definiert. Er arbeitet in der Psychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg mit jungen Patientinnen und Patienten und leitet eine Gesprächsgruppe. „Wir kommunizieren auf Augenhöhe und reflektieren Krisenerfahrungen. Es gibt Teilnehmende, die sich in meiner Gruppe viel offener äußern als bei anderen Angeboten“, berichtet Drechsel. Der promovierte Sozialwissenschaftler hat keine medizinische Ausbildung. Aber er war selbst einmal psychisch krank und er bringt die Qualifikation als „Ex-IN Genesungsbegleiter“ mit.
Ex-IN, nach dem englischen Begriff „Experienced Involvement“, steht für „Experte aus Erfahrung“. Das europaweit gültige Schulungsprogramm, mit dem Psychiatrieerfahrene Männer und Frauen sich in zwölf Modulen zum zertifizierten Genesungsbegleitenden weiterbilden können, wurde Anfang der 2000er Jahre entwickelt. Es basiert auf der Überzeugung, dass persönliche Erfahrungen hilfreich sein können, um akut Betroffene besser zu verstehen und zu unterstützen.
Stuttgarter Ex-IN-Kurse sind Erfolgsgeschichte
„Menschen in seelischen Krisen hoffnungsvoll begleiten“, so umschreibt Bärbel Nopper das Konzept. Sie ist Vorständin des Vereins „Offene Herberge“, unter dessen Dach die Stuttgarter Ex-IN-Kurse angeboten werden. Sechs dieser Kurse gab seit 2010 bislang, insgesamt 108 Männer und Frauen haben teilgenommen. Manche davon arbeiten heute im Rudolf-Sophien Stift, in Gemeindepsychiatrischen Zentren oder in der Psychiatrischen Klinik Winnenden. „Die Stuttgarter Ex-IN-Kurse sind eine Erfolgsgeschichte“, sagt Bärbel Nopper.
Benjamin Drechsel ist nicht nur zwei Tage in der Woche als Ex-IN-Genesungsbegleiter tätig, sondern auch als Trainer: Zusammen mit der Psychiaterin Dr. Sandra Apondo bietet er Ex-IN-Kurse in Heidelberg an. Die Kurse werden immer als Tandem von einer „Fachperson“, sprich einer Ärztin oder einem Therapeuten, und einem ehemaligen Patienten oder einer Patientin geleitet. Alles andere würde dem Prinzip des Modells widersprechen. Denn es geht um die Erweiterung des eigenen Standpunkts: Vom „Ich-Wissen“ zum „Wir-Wissen“ zu kommen, ist ein Ziel der Fortbildung, die insgesamt zwölf Wochenenden dauert und 2400 Euro kostet.
Kurse bieten Gelegenheit zum wechselseitigen Lernen
Sandra Apondo ist vom Nutzen der Ex-IN-Schulungen überzeugt: Die Module, die Themen wie Selbstwirksamkeit, Empowerment und Salutogenese behandeln, sind keine Therapie, können jedoch einen therapeutischen Effekt haben und bieten die Gelegenheit zum wechselseitigen Lernen – auch für das Fachpersonal. „Wir wollen Veränderungen im System der Psychiatrie anstossen“, sagt die Fachärztin. Die festen Zuschreibungen von Patient und Therapeut, von gesund und krank werden beim Ex-IN-Modell aufgeweicht, auch das ist für Sandra Apondo ein Gewinn. „Wir bilden Hoffnungsträger für die Patienten aus“, sagt sie. Lebende Beispiele dafür, dass auch schwere seelische Krisen vorüber gehen können.
Kritisch sieht sie, dass längst nicht alle zertifizierten Genesungsbegleitenden eine Stelle finden. Dazu kommt, dass solche Stellen meist nur befristet und in geringem Umfang angeboten werden. „Wertschätzung sieht anders aus“, sagt die Ärztin und Trainerin.
Mangel an Fachkräften könnte für Genesungsbegleitende Chance werden
Pia Ehret, Sozialplanerin der Stadt Stuttgart und ebenfalls zu Gast beim Treff Sozialarbeit, kann dem nicht widersprechen. Zwar sei in den acht Gemeindepsychiatrischen Zentren in Stuttgart jeweils auch ein Ex-IN-Genesungsbegleitender tätig, allerdings nur auf Basis eines Minijobs. Ehret kann sich vorstellen, dass der Mangel an Fachkräften in den Kliniken und den Gemeindepsychiatrischen Zentren eine Chance sein kann, mehr Ex-IN-Stellen einzurichten. Denn an der Sinnhaftigkeit dieses Modells hat sie keinen Zweifel. (ds)